“Gemütlichkeit” gibt es nur in der deutschen Sprache - aber im französischen Colmar kann man die Bedeutung des Begriffs studieren: “it connotes, much more than cosiness, the notion of belonging, social acceptance, cheerfulness, the absence of anything hectic and the spending of quality time”. Darauf haben sich Übersetzer geeinigt. Kluge Reisende wissen längst, dass die gemütliche elsässische Stadt im Herzen des Upper Rhine Valley - zwischen Basel und Straßburg, zwischen Rhein und Vogesen - keinen loslässt, der sich einmal in ihren behaglichen Gässchen umgeschaut, Flammkuchen gegessen und Kunstwerke von Weltrang bewundert hat.
Einmalig ist hier das Ensemble historischer Gebäude rund um die gotische St. Martins-Stiftskirche und die hochmittelalterliche Bettelordenskirche der Dominikaner. Wie durch ein Wunder ist alles unzerstört durch sechs Jahrhunderte gekommen und steht zu Recht als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO.
Klein Venedig und Herz der Weinstraße
Einmalig an Colmar: Atmosphäre, Aroma, Behaglichkeit, Ruhe. Giebel, Gauben, Wirtshausschilder, Fachwerk, bunte Fensterläden, sprudelnde Brunnen, Figurenschmuck, ein Musikfestival, eine Weinmesse, der Weihnachtsmarkt und die kunstvolle Illumination der Stadt - Kunstkenner, Feinschmecker und Flaneure kommen hier auf ihre Kosten, ob sie drei Stunden oder drei Tage bleiben. Colmar ist unerreicht – eine Kopie hat man in Malaysia gebaut! Aber bleiben wir beim Original, einer begehbaren Kunstgeschichte, und beginnen mit dem Jahr 1480. Da entstand das Koifhüs (elsässisch für Kaufhaus), die Ancienne Douane als prächtig repräsentative Zollstation, denn die Stadt war lange autonom und profitierte als Grenzstadt, auch als sie elsässisch und später französisch war. Prächtig auch das 1537 für einen reichen Hutmacher erbaute Pfisterhaus Maison Pfister sowie das Kopfhaus Maison des Têtes mit 111 Grotesken und Köpfen verziert. Von der italienischen Renaissance angeregt sind die ehemalige Wache Ancien Corps de garde und das Haus der Ritter des Johanniterordens Maison des Chevaliers de St Jean. Die ehemalige Zunftstube der Ackerleute Poêle des Laboureurs von 1626 ist ein frühes Beispiel der Barockarchitektur. Klassizistisch sind das Gerichtsgebäude Tribunal in der Grand Rue und das ehemalige Spital Ancien Hôpital. Wie in Venedig fühlt man sich in der Krutenau, elsässisch für Kräuter-Aue, mit blumengeschmückten Brücken über dem Flüsschen Lauch. Im Fischerufer Quai de la Poissonnerie ist der unendliche Datenspeicher der Kamera ein Segen – wie auch im Gerberviertel Quartier des Tanneurs. Gut, dass in den Gasthäusern die Rechnung nicht gleich nach dem Dessert gebracht wird! Man bleibt gern sitzen, und darf das auch. 119 Winzerortschaften liefern Weißweine höchster Qualität: Colmar ist Herzstück der 170 km langen Weinstraße. Und wenn es im Sommer seinen Wein feiert, kommen eine viertel Million Gäste. Natürlich auch, weil Deep Purple, Manu Chao, Patti Smith, Jean Louis Aubert oder Umberto Tozzi aufspielen.
Was Matthias Grünewald und der Erfinder der Freiheitsstatue gemeinsam haben
Wer in Colmar die Kirchen und Museen links liegen lässt, verpasst Weltkunst und Weltgeschichte. Denn von hier gingen über viele Jahrhunderte wichtige ästhetische Impulse aus – unübersehbar in New York an der Statue of Liberty, bis vor kurzem die größte freistehende Plastik der Welt und - ein Produkt aus Colmar! Schon Jahrhunderte zuvor entstanden hier die schönsten und ergreifendsten Schnitzereien. 1473 malte Martin Schongauer seine Madonna im Rosenhag für St. Martin. Ihr inniger seelischer Ausdruck war zu dieser Zeit etwas ganz Neues und rührt noch heute jeden, der eine kleine Andacht vor der jungen Frau mit dem Kind hält, die gern mit der der Sixtinischen Madonna verglichen wird. Schongauer, ein Schüler Dürers, ein Kenner der niederländischen Malerei, schuf als Kupferstecher Räume mit bis dahin unbekannter Tiefenwirkung.
In Isenheim nahe bei Colmar gaben die wohlhabenden Antoniter-Mönche einen Flügelaltar für den Krankenraum ihres Spitals in Auftrag. Matthias Grünewald malte zu Beginn des 16. Jahrhunderts den monumentalen mehrflügeligen Altar. Er wurde zum Hauptwerk des „letzten Gothikers“, Abschied und zugleich Vorbote einer neuen Zeit. Er ist im Unterlindenmuseum Musée d‘ Unterlinden zu besichtigen: Verkündigung, Geburt, Kreuzigung, Beweinung und Auferstehung als eine Predigt ohne Worte, als Glaubensweitergabe von höchstem Rang. Grünewalds Altar war für Pestkranke konzipiert und stellt die großen Fragen nach Leid und Verzweiflung, nach Annahme und Überwindung. Der Altar zieht jährlich rund 200.000 Besucher an. Damit ist das Unterlindenmuseum nach dem Louvre der größte Publikumsmagnet Frankreichs – natürlich auch durch seine Sammlung bedeutender Kunstwerke der Zeit und der Region.
Ein Spitzenwerk wollte auch der Colmarer Künstler Fréderic Auguste Bartholdi schaffen: Im Geiste der Aufklärung sollte Liberty Enlightening the World – so heißt die Dame korrekt - am Tor zur Neuen Welt die Ankömmlinge begrüßen. Ein Geschenk der Franzosen an die Amerikaner sollte es sein, eine unübersehbar große Statue mit der Fackel der Freiheit. Kein Wunder, dass es einige Jahrzehnte dauerte, bis die Figur 1886 eingeweiht werden konnte: Politische, wirtschaftliche, ästhetische, technische und vor allem finanzielle Fragen tauchten immer wieder auf und mussten gelöst werden. Und auch hier war der elsässische Erfindergeist Motor der Geschichte: die Ingenieure Eiffel und Koechlin verhalfen mit einer neuen Technik der aus dünnem Kupfer gearbeiteten Figur zur Standfestigkeit. Diese aberwitzige transatlantisch-elsässische Geschichte erzählt das Museum Bartholdy - unbedingt hingehen!
Und so ist an Kunstwerken aus ganz verschiedenen Epochen ein Kontinuum Colmarer Geschichte abzulesen: dass „the absence of anything hectic“ nicht nur eine Übersetzung für Gemütlichkeit sondern auch der Antrieb für große Leistungen ist.