ElsassFrankreich

Strasbourg

Die Europäische

Als Touristenziel bricht Straßburg jedes Jahr Besucherrekorde. Wo sonst kann man Mittelalter und Moderne so bequem besichtigen? Viele Gäste kommen mit Kreuzfahrt- und Ausflugschiffen, oder mit dem TGV, der die Stadt mit den Metropolen in ganz Europa verbindet.

Europarat, Europäisches Parlament, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte und andere Institutionen haben ihren Sitz in Straßburg. Das ist kein Zufall: Der Europarat wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ermuntert, sich in der Grenzstadt einzurichten, die über Jahrhunderte so schwer unter der „Deutsch-Französischen Erbfeindschaft“ gelitten hatte. Jetzt sollte sie zum Ort der Aus-söhnung und Freundschaft und zugleich zum Symbol eines geeinten Europa werden. Die größte Stadt im Elsass darf sich als eine der Hauptstädte Europas bezeichnen. Schon beim ersten Spaziergang ist nicht zu übersehen: Hier, im oberen linksrheinischen Upper Rhine Valley, ist die Feindschaft Vergangenheit, der grenzüberschreitende „Garten der Zwei Ufer“ Le Jardin des Deux Rives zwischen Straßburg und Kehl ist ein Ort der entspannten täglichen Begegnung von Deutschen und Franzosen an beiden Rheinufern. Von friedlicher Koexistenz erzählen auch das Europaviertel, mit dem Palast der Menschenrechte und dem Europäisches Parlament.

Römerlager, Zentrum des Frankenreichs, französische und deutsche Provinz

Dabei war Straßburg schon vor 2.000 Jahren europäisch – als römische Militäretappe Argentoratum, Silberburg, umschlungen von den Armen des Flusses. Im Jahr 842 unterzeichneten hier, mitten in Frankenreich Karls des Großen, seine Enkel das erste zweisprachige Dokument, die Straßburger Eide Les serments de Strasbourg in Althochdeutsch und Altfranzösisch. Das alte Zentrum Grand Ile steht heute als Weltkulturerbe unter dem Schutz der UNESCO. Mit Fachwerk-häusern, vorkragenden Gauben, bunten Fensterläden und mehrstöckigen spitzen Dachgiebeln bietet es schönste Beispiele des alemannisch-süddeutschen Baustils. Als Freie Reichsstadt im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, seit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg, durch ein prosperierendes Verlagswesen und eine blühende universitäre Gelehrsamkeit getrieben, war Straßburg immer eine reiche Stadt. Was man erwirtschaftet hatte, durfte man auch zeigen: die eleganten Fassaden im kostbaren französischen Stil – z.B. am Palais Rohan, heute mit drei Museen – künden vom Wohlergehen der Straßburger, die seit 1681 zu Frankreich gehören. Urbane Lebensqualität manifestiert sich auch in den Vierteln, die 1871 (nach dem Anschluss des Elsass an Deutschland) im Stil des damals überall populären Historismus entstanden. 1919 wurde die Stadt wieder französisch. Heute, nach dem dunklen Intermezzo der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, sind Straßen und Märkte belebt und quirlig, in den Winstubs herrscht Gedränge, die Plätze in der Sonne sind besetzt – ein ideales Pflaster für Flaneure und Menschen, die gern einkaufen. In der Vorweihnachtszeit verlocken die Christkindlesmärkte mit Lebkuchen, Etoiles, Männele, Gänseleberpastete Foie Gras und anderen Leckereien; ein Riesenweihnachtsbaum funkelt auf der Place Kléber.

Steinmetze, Diplomaten, freie Geister und Genies

Eine Römerstraße verband die Silberburg mit dem reichen Augsburg und Mainz. Später kamen die Pilger auf dem Weg nach Santiago und Rom, beteten vor den herrlichen Steinfiguren der Kirchen, blieben über Nacht, ließen sich mit Bier und Herzhaftem – Choucroute garni, Sauerkraut mit allerlei vom Schwein – verköstigen. Von weitem hatte sie der reich verzierte Turmhelm des gotischen Münsters geleitet: 142 Meter und 636 Stufen hoch, war es bis 1874 das höchste Gebäude der Welt! Goethe bejubelte das Münster als das Beispiel deutscher Baukunst – ein Jugendirrtum, denn natürlich kamen Stil und Baumeister aus Frankreich. Goethe sollte hier Jura studieren, las aber lieber Shakespeare und fand Anregungen für sein erstes Theaterstück Götz von Berlichingen. Straßburg bildete an seiner Universität die Elite Europas aus: In den Staatswissen-schaften Graf Görtz, den späteren Meisterdiplomaten Friedrichs II von Preußen, Metternich, den späteren Regisseur des Wiener Kongresses, in Medizin den späteren Nobelpreisträger Wilhelm Röntgen und den Gründer von Lambarene, den Elsässer Albert Schweitzer in Theologie, Philosophie und Medizin. An der Universität Straßburg sind heute noch drei Nobelpreisträger tätig: Jules Hoffmann, Jean-Marie Lehn und Martin Karplus. Die Historiker Marc Bloch und Lucien Febvre gründeten hier die einflussreiche Schule der Annales. Tomi Ungerer gelangt ohne Studium zu Weltruhm; den begnadeten Illustrator und Autor ehrt die Stadt mit einem Museum.

Die Straßburger Universität blieb, obwohl der Sonnenkönig Ludwig XIV. die katholische Einwanderung nach Straßburg gefördert hatte, immer lutherisch, In allen alltäglichen Bereichen allerdings setzte sich die französiche Kultur durch. Wer etwas auf sich hielt sprach, wie überall in Europa, natürlich Französisch! Während und nach der Großen Revolution fanden verfolgte Revolutionäre und kritische Geister aus den deutschen Kleinstaaten hier Zuflucht. Der Dramatiker Georg Büchner (er hatte hier Medizin studiert) war einer von ihnen. Andererseits entstand hier die Marseillaise, die spätere Nationalhymne, als Kriegslied der französischen Rheinarmee.

Inzwischen ist auch die einzige Grande Ecole außerhalb der französischen Hauptstadt in Straßburg angekommen – ENA Ecole Normale d‘Administration. Hier bildet der französische Staat seine Elite aus. Aus dem einen oder anderen Studenten, die einem auf dem Fahrrad zur Uni begegnen, kann später der Ministerpräsident oder der Chef der Europäischen Zentralbank werden – Straßburg, fürwahr die Europäische!